Heute morgen verbringe ich noch einmal einige Zeit am Mississippi und genieße die Ruhe, bevor ich Wisconsin hinter mir lasse und über die Brücke nach Minnesota fahre. Als ich am Welcome Schild den Versuch unternehme, ein Selbstportrait von mir zu gestalten, werde ich von einer netten, älteren Dame angesprochen. Sie könne mich doch viel schöner ablichten und ob sie mir nicht helfen solle. Gesagt, getan. Nach einem kleinen Smalltalk geht's ab auf die Piste. Heiß ist es und vor allem schwül, vom Gegenwind ganz zu schweigen. Dafür ist die Landschaft schön, da ich teilweise noch am Fluß entlang fahre.
Ich habe hin und wieder ja schonmal dran gedacht, wann ich denn wohl meinen ersten Platten haben werde. Nun, heute ist es soweit. Irgendwo bei Kilometer 30 geht meiner hinteren Pelle die Luft aus; auf einer der besten Straßen, die ich bis dato befahren habe. Die ärgsten Schotterpisten konnten den Reifen nichts anhaben. Aber diese Straße! Vielen Dank auch. Da stehe ich nun in der prallen Sonne und überlege was zu tun ist. Hier will ich jedenfalls nicht mit der Reperatur anfangen, denn weit und breit ist kein schattiges Plätzchen zu sehen.
Houston wir haben ein Problem. Zufälligerweise heißt der nächste Ort sogar Houston. Kein Witz!
Den ersten Pickup Truck, den ich in der Ferne erkennen kann, winke ich raus. Und er hält sogar an. Es ist Kevin und er ist auf dem Weg nach Houston. Er will mich gerne mitnehmen und so wuchten wir mein Heiligtum auf seine Ladefläche. Da es in Houston keinen Bikeshop gibt, kümmere ich mich eben selber darum. Am Stadtpark lässt er mich raus und ich mache mich an die Arbeit. Klappt besser als ich erwartet hatte. Mit zwei linken Händen und 10 Daumen lässt sich also schonmal ein neuer Schlauch einziehen. Prima! :-)
Von Houston startet der Root River Valley Bike Trail, den ich nehmen will. Nicht ohne vorher am Trailhead Office anzuhalten. Nichts los und somit komme ich wieder in einen lockeren Plausch. Das Maskottchen des Office ist eine Eulenomi, deren Namen ich leider vergessen habe. Sie hat sich als Baby den Flügel gebrochen und hat daher nie fliegen gelernt. Sie wohnt also schon eh und je hier. Ja, traurig!
Der Trail ist wirklich eine Empfehlung wert. Toll verläuft er immer entlang des Flusses. Und ich habe den ganzen Weg für mich alleine. Nicht ein Radler kommt mir entgegen. Mein Zelt schlage ich im Stadtpark von Lanesboro auf, einem kleinen Touristenörtchen. Sogar mit brauchbarer Dusche! :-)
Früh bin ich am anderen Morgen auf den Beinen. Und mit mir mein Nachbar, Ron. Ein End-Sechziger, der ebenfalls alleine unterwegs ist. Jedoch aus anderen Gründen wie ich. Heute abend ist Tanz in der Stadt. Und da er nicht verheiratet ist, will er dort was klar machen. Er wird mir immer in Erinnerung bleiben mit seinem Spruch: "I'm an old man who loves women, but just for one night. And I don't know why." :-)
Ich verlasse Ron und mache mich auf den Weg, anfangs noch sehr motiviert. Ich fahre ein Stückchen entlang des Trails und werde plötzlich von einer Art "Langsamkeit" heimgesucht. Mir will nicht einleuchten, weshalb ich heute einfach wieder Kilometer machen soll, obwohl die Landschaft entlang des Trails sehr schön ist. Kurzerhand entscheide ich, dass ich es langsam angehen lasse. An einem Picknicktisch direkt am Fluss lege ich eine Rast ein und koche mir erstmal genüsslich 2 Tassen Kaffee. Ich genieße die Sonne, die Wärme, den Wind und lausche dem Fluss. Göttlich :-)
Das war's für heute, entscheide ich. Ich werde den Trail noch bis Preston fertig fahren und mich dort im Trailhead Inn Motel einmieten. Somit hab ich heute zwar nur läppische 25 Kilometer gefahren aber was soll's. Ich hatte einen tollen Vormittag und den Rest des Tages werde ich mich um die Wäsche kümmern und einkaufen. Außerdem geht bei meiner Shorts eine Naht auf. Mal schauen ob in Preston ein Nähstübchen ist. Die Lydiii könnt ich jetzt gebrauchen ;-)
Bei meiner Fahrt durch das kleine Örtchen finde ich leider nichts, was nach Nähstübchen aussieht, doch eine Dame im Lebensmittelladen gibt mir den Hinweis, dass ich mal bei Mary-Lou Hansen anklopfen soll. Sie wohnt in ihrer Nachbarschaft und macht solche Näharbeiten. Nun, ist zwar ungewohnt - "Hallo Frau Hansen, können Sie mir mal die Hose nähen?" - aber was soll's. Mutig klopfe ich an ihre Tür und erkläre ihr, weshalb ich hier bin. Gar kein Problem, macht sie gerne und ist auch nur ne Kleinigkeit. Ihr Mann Walt (eigentlich Walter) kommt hinzu. Hansen; sein Vater ist als kleiner Bub aus Deutschland in die USA immigriert. Was sonst. Deutsche Wurzeln, wo man hinschaut.
Er ist ein Teil von 20 (!) Geschwistern. Ich glaube ich habe ihn für einen Moment angeguckt, als wär er der Leibhaftige. Ich wollte schon fragen, ob seine Eltern auch noch andere Hobbies hatten, doch ich hab's mir dann verkniffen. Ich werde noch zu leckerem Eis, Kuchen und Eistee eingeladen und wir verbringen noch eine schöne, witzige Zeit, denn Walt hat immer nen spassigen Spruch auf den Lippen.
Das mit dem Motel war eine gute Entscheidung, denn Nachmittags zieht ein Gewitter über uns hinweg und es regnet den ganzen Abend junge Hunde.
100 Kilometer sind es bis zu meinem heutigen Tagesziel, dem Oakwood Campground bei Austin (Nebenbei bemerkt, ist Austin die Heimat des "Spam". Nicht die unerwünschte elektronische Post, sondern das berühmte Dosenfleisch.). Doch das wird ein harter Ritt. Es ist hügelig mit jeder Menge Gegenwind, der mich extrem bremst. Ich komme nicht mal in die Nähe der 20 km/h. Ich überlege, den Plan aufzugeben und mir vorher irgendwo ein Quartier zu suchen. Dazu kommt, dass die Straße extrem übel ist, da so gut wie keine Shoulder vorhanden ist und es sich um einen gut befahrenen Highway handelt. Mehrere Male muss ich auf den unbefestigten Teil ausweichen, um nicht unter die Räder zu kommen. Das zerrt an meiner Laune und ich stampfe hier und da wutentbrannt um mich.
In Grand Meadow frage ich bei einer Tanke ein paar ältere Farmer, ob es außer der Interstate noch eine weitere geteerte Straße gibt, die mich nach Austin bringt. Klar, ich soll die County Road 8 ein paar Meilen nach Süden fahren und dann die 3 nach Westen. "Blacktop" und führt direkt nach Austin. Fein! Als ich an der CR3 ankomme erwartet mich, na: Schotter!! Ich habe das Gefühl, das ist heute eine Art Prüfungstag. Wenn ich den überstehe, bin ich unverwundbar. Okay, vielleicht besteht die Straße ja nur anfangs aus Schotter. Todesmutig lasse ich mich auf das Abenteuer "Gravelroad" ein. Immerhin hatte ich kürzlich erst einen Platten und hier draußen kommt so schnell keiner vorbei.
Ich komme nicht voran, habe das Gefühl, ich trete auf der Stelle. Nach 10 Minuten halte ich an und setze mich abermals in die Wiese. Gegenwind, Hügel und Schotterpiste, von meinem Hinterteil ganz zu schweigen. Das ist heute zu viel für mich und ich verfluche alles und jeden, was mir heute über den Weg gelaufen ist. Und ja, hier und heute stelle mir zum ersten Mal wirklich die Frage: Was machst du eigentlich hier?
Doch aufgeben werde ich nicht! In dem Moment streckt Jolly den Kopf aus seiner Lenkertasche und feuert mich an: "Hör auf zu jammern! Du hast dir das ausgesucht, also geht's da jetzt durch! Wenigstens regnet es nicht!" Recht hat er. So gesehen jammere ich auf hohem Niveau. :-)
Ich schaffe es. Irgendwie schaffe ich es zum Oakwood Campground. Über scheinbar endlose Schotterpisten, Abbiegungen, Kreuzungen (mit Straßennamen! Hah!!! Ich sehe nur nirgends "Straßen"), links Maisfelder, rechts Sojabohnen, bis zum Horizont, nur unterbrochen von den Windrädern und hier und da mal ein paar Bäumen. Irgendwann befinde ich mich wieder auf einer geteerten Straße. Das ist so toll. Ich habe mich noch nie so sehr über eine geteerte Straße gefreut.
Kurz darauf hüpft mir in Mapleview ein Wendy's vor die Nase! Nix wie rein! Den Burger hab ich mir aber mal sowas von verdient! Vor mir ist eine Familie mit zwei Kindern dran. Einer davon so ein Rotzlöffel mit Spielzeugpistole, der ständig auf mich zielt und schießt. Sicher werden viele den kleinen hässlichen Stinker aus dem Film "Hangover" kennen. Genau so kann man sich den vorstellen. Ich denke, es ist mehr als verständlich, dass diese Situation mein ohnehin stark gedehntes Nervenkostüm an den Rande des Exodus bringt.
Den kurzen Abend verbringe ich noch auf dem sehr schönen Campground, zusammen mit Bryan, dem Besitzer, der mit einem 6er Bud Light zu mir kommt. Ich bin sein erster deutscher Besucher und nach so einem Tag auf dem Rad muss ich doch sehr durstig sein. Das bin ich... :-)
Gefahrene Kilometer
die letzten 3 Tage: 214 km
Gesamt: 2419 km
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